Corinna Kadis blättert im Familienalbum. Sie lächelt. Wie auf dem Foto. Erschöpft, aber stolz hält die Kölnerin darauf ihr erstes Kind im Arm. Fenja. Kurz vor Weihnachten 2015 sind sie endlich zu dritt. Ein paar Seiten weiter: Fenja im Krankenhaus. Ihre Haut ist gelblich. Das Baby schwer krank. Als Fenja sechs Wochen alt ist, halten ihre Eltern die kleinen Händchen und begleiten ihr Baby durch den grell erleuchteten Bettentunnel zum Operationszentrum.
Im 300 Kilometer entfernten Ludwigsburg hat Laura Wiedmann auch so ein Fotobuch. Fenja und Lauras Sohn Matt sind zwei von nur etwa 65 Kindern, die jedes Jahr in Deutschland mit einer Gallengangsatresie geboren werden. „Die Gallenwege sind verkümmert. Die Gallenflüssigkeit kann nicht aus der Leber abfließen. Ohne Behandlung führt das in kurzer Zeit zu Leberzirrhose und schließlich zum Organversagen“, weiß Dr. Leonie Schumm. Die Assistenzärztin forscht als Clinician Scientist an der Charité Berlin zu diesem seltenen Krankheitsbild. Die Forschungsinitiative Alliance4Rare der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung fördert junge wissenschaftliche Talente wie die 32-jährige und ermöglicht Freiräume für intensive Forschung im dichten Klinikalltag.
Häufigste Ursache für kindliche Lebertransplantationen
Prof. Dr. Philip Bufler, Direktor der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Gastroenterologie, Nephrologie und Stoffwechselmedizin an der Charité und Dr. Milad Rezvani holten Leonie Schumm für das Forschungsprojekt aus Zürich zurück nach Berlin. Milad Rezvani ist Kinderarzt, Leber-Spezialist und Leiter der einzigen Emmy-Noether-Forschungsgruppe, einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG geförderten Gruppe besonders qualifizierter Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, die sich mit pädiatrischen Lebererkrankungen beschäftigt. Für das Alliance4Rare-Projekt hat er ein Konsortium aus internationalen Experten aufgebaut. Seit dem Studium beschäftigt sich der 40-Jährige mit Lebererkrankungen bei Kindern – besonders mit der Gallengangsatresie, der häufigsten Ursache für kindliche Lebertransplantationen.
Operation ist nur bei 40-50 % langfristig erfolgreich
Der Ansatz dieses Forschungsprojekts ist ambitioniert: Es soll den Weg zu einer Antikörpertherapie gegen die Gallengangsatresie ebnen. Denn Medikamente gibt es bisher nicht. Der erste Weg der Babys mit dieser Diagnose führt in der Regel direkt in den Operationssaal. Die Operation, die Fenja und Matt helfen soll, ist die Hepatoporto-Enterostomie, auch „Kasai-Operation“ genannt – nach dem japanischen Kinderchirurgen Morio Kasai, der sie in den 1950er Jahren erstmals durchführte. Leonie Schumm kennt diesen Eingriff gut: „Das ist gewissermaßen ein chirurgischer Trick: Eine Dünndarmschlinge wird direkt an die Leber genäht. Sie ersetzt die verschlossenen Gallengänge und leitet die Gallenflüssigkeit in den Darm ab. Das ist lebenswichtig für die kleinen Patienten, denn sie ist die einzige Möglichkeit, den Gallefluss wiederherzustellen.“
Nach der Operation kehrt in Fenjas Familienalbum Normalität ein: Strandurlaube, ein kleiner Bruder, eine Schultüte und Pferdebilder lösen die Krankenhausfotos ab. Bei Matt ist das noch nicht in Sicht. Nur drei Wochen nach der Kasai ist klar: Der Trick hat nicht funktioniert. Mit vier Monaten braucht er eine Lebertransplantation. „Die Kasai-Operation ist leider nur bei 40-50 Prozent langfristig erfolgreich“, erklärt Milad Rezvani.
Die Suche nach dem Unterschied
Milad Rezvani und Leonie Schumm untersuchen gezielt, was das „Outcome“ dieses Eingriffs bei Fenja und Matt so unterschiedlich macht. Ihre zentrale Frage: Warum müssen manche Kinder mit Gallengangsatresie nach einer Kasai-OP transplantiert werden, andere nicht? „Daten deuten darauf hin, dass die Gallengangatresie bereits vor der Geburt beginnt und chronische Entzündungsprozesse eine Rolle spielen. Wir möchten herausfinden, welche Immunzellen daran beteiligt sind. Wenn wir das verstehen, können wir Medikamente entwickeln“, sagt Leonie Schumm. Die Forschenden vermuten, dass der Schlüssel dazu in der Leber liegt. Das Team legt eine Biobank an und analysiert Gewebeproben von zwei Gruppen: Die der Fenjas, die nach der Kasai-Operation stabil bleiben. Und die der Matts, die eine Transplantation benötigen.
Wie Google Earth für Organe
Die Leberproben sind so groß wie eine Fingerkuppe – maximal. „Da muss man gut drauf aufpassen“, sagt Leonie Schumm. Die winzigen Proben, die Kindern z.B. während der Kasai-Operation oder einer Biopsie entnommen werden, bereitet sie für weitere Untersuchungen vor. Mit einem Mikrotom, einer besonders präzisen und scharfen Klinge, schneidet sie das Gewebe in feine Scheibchen. Fünf Mikrometer dick – also 0,005 Millimeter, zehn Mal feiner als ein Haar. „Diese färben wir mit fluoreszierenden Antikörpern ein und schauen sie unter dem Mikroskop an.“ Ihr Mikroskop erinnert nicht an das Gerät aus dem Bio-Unterricht, bei dem man durch ein Okular schaut und mit einem Rädchen scharf stellt. Es ist ein hochmodernes, computergestütztes System, das die Gewebeproben extrem vergrößert auf dem Bildschirm darstellt. „Wir schauen auf die Leber und zoomen immer weiter rein“, erklärt sie. Ein bisschen wie bei Google Earth. „Erst auf die Gewebsebene, dann auf die Zellebene. Dann noch tiefer rein, bis auf die molekulare Ebene.“
Leonie Schumm und Milad Rezvani kooperieren mit dem Labor von Prof. Dr. Christian Conrad am Berlin Institute of Health an der Charité. Dort arbeitet Biologe Dr. Robert Lorenz Chua, den die Alliance4Rare ebenfalls für zwei Jahre fördert. Er quantifiziert die RNA-Moleküle in jeder einzelnen Zelle und kann so verstehen, ob „gesunde“ oder „kranke“ Zellprogramme abgespielt werden. „Wie auf einer Landkarte können wir darstellen, wo sich die kranken Zellen im Gewebe anhäufen“, erklärt Milad Rezvani. Das Innovative: „Unsere Forschung geht über die reine Beschreibung von Zellveränderungen hinaus. Wir untersuchen, wie sich das kranke Gewebe tatsächlich verhält und funktioniert. Daraus können wir Erkenntnisse über Krankheitsmechanismen ableiten.“ Das gelingt über so genannte „funktionale Avatare“. Es klingt ein wenig nach Science-Fiction: Im Labor züchten sie aus den Gewebeproben im Reagenzglas „Organoide“ – winzige organähnliche Strukturen. Individuell abgeleitet vom jeweiligen Patienten. „Wir haben erkannt, dass die Organoide von Gallengangsatresie-Patienten schlechter Gallengänge bilden, als die der Kontrollgruppe“, sagt Milad Rezvani. „Dann können wir schauen, was passiert, wenn wir Immunzellen dazugeben“, ergänzt Leonie Schumm. Irgendwann könnten sie so auch Medikamente testen.
Die Hoffnung: Medikamente statt Transplantation
Einige Organoide bilden sogar embryonale und fetale Entwicklungsstadien ab. „Das ist wichtig, weil wir uns ziemlich sicher sind, dass die Gallengangsatresie in der Regel in einer Phase entsteht, in der sich die Leber und das Immunsystem entwickeln.“ Anderthalb Jahre noch läuft das Forschungsprojekt. Leonie Schumm und Milad Rezvani sind zuversichtlich, dass sie bis dahin sagen können, an welchen Zielmolekülen der Leber künftige Therapien andocken sollten. „Vielleicht sogar, wie wir es schaffen, dass die Kinder nicht mehr transplantiert werden müssen.“
Matt wird bald sieben. Im Spätsommer kommt ein Foto mit Schultüte in sein Album. Er hat die Lebertransplantation gut überstanden. Seine Mutter Laura konnte ein Stück ihrer Leber spenden. Organtransplantationen sind eine Errungenschaft der Spitzenmedizin, die Leben retten. Das Ziel der Gallengangsatresie-Forschung ist es, ohne diese großen Eingriffe auszukommen, nach denen Kinder ihr Leben lang Medikamente nehmen müssen.
Fenja ist neun Jahre nach ihrer Kasai-OP eine fröhliche Drittklässlerin, die – zur Überraschung ihrer Mutter – besonders gern Mathe mag. Manchmal trifft es Corinna Kadis wie aus dem Nichts: Warum hat ausgerechnet meine Tochter diese Krankheit? Wie lange geht es Fenja noch gut? Braucht sie vielleicht doch eine Lebertransplantation? Die Antworten auf einige dieser Fragen, da sind Milad Rezvani, Leonie Schumm und ihr Team hoffnungsvoll, werden sie schon bald in ihrem Labor finden.
Den Artikel und viele weitere Informationen zu unserem Engagement für Seltene Erkrankungen finden Sie im Jahresbericht der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung.