Seltene Erkrankungen betreffen in acht von zehn Fällen Kinder und Jugendliche. Ihre Teilhabe am medizinischen Fortschritt hängt daher ganz entscheidend von engagierten Pädiaterinnen und Pädiatern ab, die sich dem Spagat zwischen Krankenbett und Labor mit Hingabe stellen. Um forschende Kinderärztinnen und -ärzte auf diese anspruchsvolle Aufgabe vorzubereiten und ihnen die nötigen Freiräume für wissenschaftliches Arbeiten auf hohem Niveau zu verschaffen, setzt das von der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung initiierte Forschungsnetzwerk Alliance4Rare unter anderem auch auf strukturierte Clinician und Medical Scientist Programme (CS4RARE). Diese ermöglichen den Teilnehmenden geschützte Forschungszeiten, in denen sie von klinischen Aufgaben freigestellt wissenschaftliche Projekte zu Seltenen Erkrankungen vorantreiben können.
Liebe Frau Dr. Wilpert, Sie sind für das Junior Clinician Scientist-Programm der Alliance4Rare, gefördert von der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung und der Berliner Sparkassenstiftung Medizin ausgewählt worden. Was hat Sie motiviert, diesen besonderen Weg in Wissenschaft und Klinik einzuschlagen?
In der Neuropädiatrie sind Seltene Erkrankungen häufig. Ich erlebe täglich Familien, die nach vielen Jahren der Suche dringend auf eine Diagnose und Behandlungsoption hoffen. Für mich war es deshalb zu Beginn meiner klinischen Ausbildung zur Kinderärztin ein selbstverständlicher Schritt, erlernte wissenschaftliche Methoden aus meiner Zeit als PhD-Studentin auf konkrete Fragestellungen unserer Patientinnen und Patienten zu übertragen. Kinder und Jugendliche mit Seltenen Erkrankungen sind auf Clinician Scientists angewiesen, die über die Standardversorgung hinaus zuhören, sorgfältig untersuchen und wenn nötig den Spagat ins Labor wagen. Die Charité ist hierfür eine Anlaufstelle und ich versuche, dies in der Neuropädiatrie anzubieten. Auch kleine Erkenntnisgewinne bringen viel Hoffnung in die betroffenen Familien.
Woran arbeiten Sie momentan und was möchten Sie im Bereich der Seltenen Erkrankungen erreichen?
Ich würde am liebsten allen Kindern und Jugendlichen, die ich betreue, anbieten, zu ihren Anliegen Forschungsprojekte zu entwickeln. Aber gute Wissenschaft braucht Zeit und Expertise, sodass ich mich aktuell auf das Allan-Herndon-Dudley Syndrom (AHDS) fokussiere.
Das AHDS wird durch Mutationen im Schilddrüsenhormontransporter MCT8 verursacht. Dies führt dazu, dass Schilddrüsenhormone, die von der Schilddrüse ins Blut ausgeschüttet werden, nicht ins Gehirn aufgenommen werden können, wo sie für die Gehirnentwicklung notwendig sind. Betroffene Patienten leiden unter einer Entwicklungs- und Bewegungsstörung, die bisher leider nicht effektiv behandelt werden können. Bereits im Rahmen meiner Doktorarbeit beschrieben wir mit internationalen Kolleginnen und Kollegen Symptome eines Dopaminmangels unserer Patienten. Basierend auf dieser Beobachtung untersuche ich aktuell im Labor, welcher Schritt der Dopaminwirkung beim AHDS gestört ist (Einzelzell-RNA-Sequenzierung dopaminerger Nervenzellen aus Patientenstammzellen), wo MCT8 im Gehirn exprimiert ist (Einzelnukleus-Multiomics menschlichen Gehirngewebes) und welche Strukturen damit Therapieziel sein könnten. Gleichzeitig behandeln wir die Patienten bereits mit dem „Dopaminersatz“ Levodopa/Carbidopa, was zu einer Verbesserung Patienten-orientierter Therapieziele (z.B. verbesserte Willkürbewegung) führt. Ich hoffe, mit diesem Projekt zu einem besseren Verständnis des Krankheitsmechanismus, gezielter Therapieentwicklung und einer höheren Lebensqualität von Kindern mit AHDS beitragen zu können.
Welche Möglichkeiten eröffnet Ihnen die Förderung durch die Alliance4Rare im Arbeitsalltag, die Sie sonst nicht hätten?
Die Förderung durch die Alliance4Rare ermöglicht es mir, 25% der Arbeitszeit an meinen Forschungsprojekten zu arbeiten. Allein die Isolation von Zellen aus neuronalen Netzwerken für Einzelzell-Untersuchungen dauert einen ganzen Arbeitstag. Und die Versorgung der Patienten bedarf deutlich mehr Zeit als eine reguläre Verlaufskontrolle, sodass ich meine Projekte ohne die Unterstützung des Junior Clinician Scientist for Rare Programms nicht umsetzen könnte. Außerdem bietet mir die Alliance4Rare die Chance, mich im Bereich der Seltenen Erkrankungen zu vernetzen und die Sichtbarkeit des AHDS zu erhöhen.
Dr. Nina-Maria Wilpert, PhD hat an der Charité – Universitätsmedizin Berlin Humanmedizin studiert und zum Thema „Molekulare und phänotypische Charakterisierung zweier monogener Entwicklungsstörungen des Nervensystems: MCT8 Defizienz & FOXG1 Syndrom“ promoviert. Derzeit befindet sie sich in der Facharztweiterbildung zur Pädiaterin in der dortigen Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Neurologie. Im Rahmen des Junior Clinician Scientist for Rare Programms konnte Dr. Wilpert mit dem Projekt „Die Rolle von Dopamin beim Allan-Herndon-Dudley Syndrom (AHDS/MCT8-Defizienz)“ überzeugen. Der Förderzeitraum erstreckt sich von Januar 2024 bis Dezember 2025.