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Veranstaltung

„Rethinking Rare“: Rückblick auf das 8. Rare Disease Symposium der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung 1/2

Das gemeinsame Nach-, Weiter- und um die Ecke-Denken stand im Mittelpunkt des 8. Rare Disease Symposiums der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung. Rund 150 Teilnehmende waren der Einladung nach Berlin am 3. und 4. Mai 2024 gefolgt. Zusammen mit inspirierenden Referentinnen und Referenten wurde der weite Bogen der Seltenen Erkrankungen aufgespannt und diskutiert, wie die Medizin von morgen den besonderen Bedürfnissen der Betroffenen gerecht werden kann.

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Programmflyer

Rückblick Tag 1: Freitag, 3. Mai 2024

In ihrem eröffenden Grußwort betonte Eva Luise Köhler die Dringlichkeit, Seltene Erkrankungen neu zu denken und innovative Lösungen für Forschung und Versorgung zu finden: „Vorausdenken ist gefragt, um heute klug und mit Weitsicht die Weichen für eine personalisierte Präzisionsmedizin von morgen zu stellen!“ Die Vorsitzende des Stiftungsrats der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung hob die Bedeutung der Zusammenarbeit und den Austausch vielfältiger Perspektiven hervor. Sie lud alle Teilnehmenden ein, ihre Ideen, Begeisterung und Kreativität einzubringen, um gemeinsam die Herausforderungen zu meistern und eine bessere Zukunft für Menschen mit Seltenen Erkrankungen zu gestalten.

Künstliche Intelligenz und Seltene Erkrankungen

Mit einer Keynote Speech eröffnete Prof. Dr. Klaus Robert Müller, TU Berlin und Direktor des Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data (BIFOLD), die zweitägige Veranstaltung. Als Pionier des maschinellen Lernens und Entwickler von Methoden der künstlichen Intelligenz erklärte er anschaulich auch nicht fachkundigen Teilnehmenden die Grundlagen der digitalen Mustererkennung. Diese ist wesentlich für das maschinelle Lernen und die Verarbeitung von Daten in neuronalen Netzen. Er wies auf die Möglichkeiten von Missinterpretationen der Daten hin und betonte, dass die reine Vergrößerung der Datenmenge kein Garant für eine bessere Auflösung und Präzision ist. Professor Müller machte deutlich, warum die Mustererkennung bei seltenen und sehr seltenen Krankheiten eine große Herausforderung bleibt: Auch wenn die Quantität der Daten durch intensive Kollaboration gesteigert wird, ist das Kriterium „selten“ nicht aufzulösen – „selten bleibt nun einmal selten“. Bis mit geeigneten Verfahren auch bei geringen Fallzahlen präzisere Diagnosen gestellt werden können, ist nach Einschätzung von Prof. Müller noch weitere Grundlagenforschung auch in der Informatik erforderlich.

Session1: Epidermolysis bullosa, die Schmetterlingskrankheit

Bei der Epidermolysis bullosa (EB) ist die Haut so fragil und verletzlich wie die Flügel von Schmetterlingen: Bei nur leichtem Druck kann es zu Verletzungen und schmerzhafter Blasenbildung kommen. Wunden, Infektionen und Vernarbungen sind die Folge, neben der Haut können auch andere Organe betroffen sein. In einem eindrucksvollen Übersichtsvortrag stellte Frau Prof. Dr. Leena Bruckner-Tuderman, Universitätsklinikum Freiburg, von Mitreferent Michael Hund als „Godmother der von Epidermolysis bullosa Betroffenen“ bezeichnet, das klinische Spektrum der schweren dermatologischen Erkrankung vor. Seit sie 2009 den Eva Luise und Horst Köhler Forschungspreis erhalten hat, hat sich das Wissen über die genetischen Grundlagen erheblich erweitert. Auch erste erfolgreiche symptomatische Therapien kommen zum Einsatz. Ein bedeutender Meilenstein ist die Zulassung der FDA für die topische Gentherapie (B-VEC) bei dystropher EB mit Mutationen im COL7A1-Gen. TGF-β-Inhibitoren, zum Beispiel Losartan, bessern die EB-induzierte Fibrose. Auch wenn es noch eine Weile dauern wird, bis Gene Editing und gezielte Gentherapien die Haut, das größte Organ des Menschen, kausal adressieren können, gelingt es bereits jetzt durch symptomatische Zell- und Gentherapien, von denen weitere in der Entwicklung sind, die Lebensqualität der Betroffenen signifikant zu verbessern.

Andreas Miller, Stellvertretender Vorsitzender der deutschen Selbsthilfeorganisation IEB e.V. DEBRA, brachte die wichtige Perspektive der Betroffenen ein. In seinem mit überzeugender Authentizität und selbstbewusst vorgetragenen Beitrag teilte er auch persönliche Erfahrungen mit junktionaler EB. Er schilderte, dass die Versorgung von Wunden und das Wickeln von Verbänden seit dem frühen Kindesalter täglich mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Es wurde sehr deutlich, dass EB ein ständiger Begleiter im Leben der Betroffenen ist und deren Teilhabe erheblich einschränkt. Auch in einem solidarischen Gesundheitssystem wie in Deutschland gibt es viele Hürden und Herausforderungen in der Versorgung. Hier ist der intensive Austausch innerhalb der DEBRA-Gemeinschaft und gezielte Forschung wichtig. Die Betroffenen setzen große Hoffnung in diese Maßnahmen. Andreas Miller konnte den Zuhörenden eindrucksvoll aufzeigen, was EB-Betroffene täglich leisten, um Körperfunktionen aufrechtzuerhalten, die gesunden Menschen oft selbstverständlich erscheinen.

Zum Abschluss der Session begeisterte Michael Hund, CEO von EB Research Partnership aus New York, die Teilnehmenden mit einem motivierenden Vortrag. Auch er skizzierte eindrucksvoll anhand der unterschiedlichen Facetten des Krankheitsbilds der EB den immensen Forschungsbedarf. Mit treffenden Metaphern für den notwendigen Mut und die Risikobereitschaft veranschaulichte er die Notwendigkeit, den Blick in die Zukunft zu richten und entschlossen zu handeln: „Räume wie dieser verändern die Welt. Wir können echte Veränderung herbeiführen“, so seine feste Überzeugung. Als Absolvent der Wirtschaftswissenschaften der Universität Yale hat Michael Hund mit seinem Team von EB Research Partnership ein neues Geschäftsmodell für die Finanzierung der translationalen Forschung zu EB entwickelt. Durch Bereitstellung von Fördermitteln der Zivilgesellschaft werden Projekte der Therapieentwicklung bis zum Stadium der Phase 2 finanziert und dann an die Pharmaindustrie abgegeben. Im Gegensatz zu akademischen Institutionen und Forschungsinstituten hat diese Kapazitäten zur Durchführung notwendiger Studien. Die Profite, die durch den Verkauf an die Industrie entstehen, werden vollständig für die Förderung neuer Forschungsprojekte genutzt. So kann EB Research Partnership bereits seit einigen Jahren kontinuierliche Forschung anstoßen und an beachtlichen Forschungserfolgen mitwirken.

Prof. Dr. Leena Bruckner-Tuderman, Andreas Miller und Michael Hund (von links)

Session 2: Die Bedeutung der Einbeziehung der Betroffenen in die Forschung

Die Beteiligung von Patienten in der medizinischen Forschung sollte sich nicht nur auf die Bereitstellung von Daten und die Teilnahme an klinischen Studien beschränken. Wie wichtig und erfolgreich eine umfassende Beteiligung beginnend mit der Forschung zur „natural history“ über die Beteiligung in der Konzipierung von Projekten bis zur Einwerbung von Drittmitteln beschrieb Dr. Julia Matilainen, Mitglied der PCH Familie, dem deutschsprachigen Selbsthilfe-Verein für Familien mit Kindern mit pontocerebellärer Hypoplasie. In ihrem zugleich persönlichen und fachlich pointierten Vortrag zeigte sie auf, welch wichtigen Beitrag Patientinnen und Patienten in der Forschung leisten können: „Das gesammelte „Fachwissen liegt in den betroffenen Familien und nicht in Publikationen, die im Wissensstand oft Jahre hinter der gelebten Praxis hinterherhinken“. Gerade bei Seltenen Erkrankungen sei eine gründliche Beobachtung und enge Begleitung enorm wichtig und Ärztinnen und Ärzte auf die Informationen der Familien angewiesen. Julia Matilainen betonte, dass diese wichtige Arbeit nicht nur auf den Schultern einiger Weniger liegen dürfe. Eine bessere Finanzierung und Unterstützung von Patientenorganisationen sei daher unerlässlich. Für wichtig erachtet sie zudem die Entwicklung übergreifender Rahmenwerke und „Toolboxes“: „Nicht jede(r) muss das Rad neu erfinden. Nur Standardisierung und Synergien werden das Potenzial freisetzen, Behandlungsmöglichkeiten für viele Seltene Erkrankungen zu finden und zu nutzen.“

Die große Bedeutung der Betroffenenperspektive stellte auch Valerie Kirchberger, Chief Medical Officer and Co-Managing Director der Heartbeat Medical Solutions GmbH, in das Zentrum ihres Vortrags. Sie erläuterte Patient-Reported Outcome Measures (PROMs) als Instrumente, die mit standardisierten Fragebögen umfassende Informationen zur Bewertung der Qualität von Gesundheitsversorgung erheben. Bei häufigen Erkrankungen konnte bereits gezeigt werden, dass der Einsatz von PROMs nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Lebensdauer erhöht. Aber auch bei Seltenen Erkrankungen sieht Valerie Kirchberger großes Potenzial: So können etwa Effekte innovativer Diagnostik oder auch die Beratung in Zentren für Seltene Erkrankungen oder anderen Einrichtungen erfasst und ebenfalls in die klinische Forschung integriert werden. Aggregierte Daten helfen zudem in der Abschätzung des potentiellen individuellen Erfolgs einer möglichen Behandlung. Die Integration von PROMs in Transparenzregister und in das Nationale Register für Seltene Erkrankungen NARSE wird eine zeitnah zu erbringende Aufgabe sein. Valerie Kirchberger unterstrich, dass die engagierte Community „der Seltenen“ mit informierten und interessierten Patientinnen und Patienten die beste Voraussetzung für wertvolle Informationen ist. Von der Herausforderung durch die heterogenen und kleineren Patientengruppen sollte man sich nicht abschrecken lassen. Ihr Appell: „Keep it simple. But do it. Data is vital.”

Der Aspekt der Evidenz durch Informationen aus erster Hand zu Erfahrungen und Perspektiven der Patientinnen und Patienten ist ein wichtiger Teil einer patientenzentrierten Ethik, wie Prof. Dr. Nikola Biller-Andorno, Direktorin des Instituts für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich, in ihrem anschließenden Vortrag ausführte. Seit 2021 engagiert sie sich mit ihrem Team im interdisziplinären Forschungsprojekt ITENERARE, das die Entwicklung innovativer Therapien im Bereich der Seltenen Erkrankungen mit medizinischer, juristischer, naturwissenschaftlicher, theologischer und sozialwissenschaftlicher Expertise begleitet. Um ein besseres Verständnis der (täglichen) Herausforderungen von Menschen mit Seltenen Erkrankungen in der Schweiz zu erhalten, hat Nikola Biller-Andorno mit ihrem Team Interviewstudien mit der „DIPEx”-Methodologie durchgeführt. Die Ergebnisse werden im Internet und in Datenbanken veröffentlicht, illustriert mit Text-, Video- und Audioauszügen. Die Websites sind frei zugänglich und sollen zugleich Ressource für Information und Unterstützung für Betroffene sein sowie Anregung für Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung. Nikola Biller-Andorno sieht großes Potenzial im Teilen von Gesundheitserfahrungen. KI-Tools ermöglichen es, Teile der Datenverarbeitung zu beschleunigen und bieten Möglichkeiten für die Entwicklung innovativer Lehrmittel und die Einspeisung der Ergebnisse in den politischen Diskurs. Wichtige Voraussetzung ist dabei die Gewährleistung von ethischen Standards, Datensicherheit und Rechtssicherheit, um Vertrauen sowohl bei Betroffenen als auch Forschenden zu schaffen.

Dr. Julia Matilainen, Prof. Dr. Nikola Biller-Andorno und Dr. Valerie Kirchberger (von links)

Den Blick in die Zukunft richtete auch die Panel Diskussion im Anschluss: Moderiert von Annette Grüters-Kieslich diskutierten Michael Hund, Prof. Dr. Tobias Cantz (Medizinische Hochschule Hannover), sowie Prof. Dr. Christopher Baum und Prof. Dr. Peter Robinson (beide Berlin Institute of Health at Charité unter dem Titel „The Future is now“ über Chancen und Herausforderungen von neuen Methoden und Technologien im Bereich der Seltenen Erkrankungen. In der Diskussion wurde deutlich, dass enormer medizinischer Fortschritt in Sicht-, aber noch nicht in unmittelbarer Reichweite ist. Um der Präzisionsmedizin von morgen den Weg zu ebnen, braucht es neben einem massiven Ressouceneinsatz und der Schaffung sowie Nutzung von Synergien vor allem die Bereitschaft, Daten nicht nur strukturiert zu erheben, sondern auch zu teilen. Vielversprechend scheinen neue Formen der Kooperation wie die Nationale Strategie für Zell- und Gentherapie und die Entwicklung des Nationalen Registers für Seltene Erkrankungen. Aber es braucht in allen Bereichen mehr Schnelligkeit, wie Annette Grüters-Kieslich betonte: „Die Menschen mit Seltenen Erkrankungen haben keine Zeit!“ Um auch international Investoren und Mitstreiter zu gewinnen, müssen bürokratische und strukturelle Hindernisse überwunden werden. Die zur Zeit noch hohen Kosten werden durch Standardisierungen und Entwicklung von Plattformtechnologien sinken, so die Überzeugung der Runde. Es bestand Einigkeit darüber,dass eine gute Kooperation von Academia und Pharamindustrie notwendig ist und neue Wege sowohl in privat-public Partnerships, der öffentlichen Förderung und insbesondere auch im zivilgesellschaftlichen Engagement eröffnet werden müssen, damit gute Ansätze nicht in den Kinderschuhen stecken bleiben. Wenn dazu politische Rahmenbedingungen klug gestaltet werden, erscheint die Zukunft nach Einschätzung der Panel Diskutanten in einem positiven Licht: „Keeping up the pace in developing and funding, technology will bring us there.“

Hier finden Sie den Rückblick auf den zweiten Veranstaltungstag: Rückblick 8. Rare Disease Symposium 2/2

Weitere Bilder der Fotografin Andrea Katheder finden Sie hier: Album 8. Rare Disease Symposium

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